Felici
Curschellas
Nicht nur das Leben, auch eine Stadt wie Pattaya, besteht aus
Zeichen und Merkmalen, die es zu erkennen und zu verstehen gilt, um sie so zu
einem Bild zusammenzufügen, das uns gefällt. Mein Rat für den interessierten
Besucher des Seebades wäre, die Stadt zu Fuß zu entdecken.
Ein
Künstler bei der Arbeit
In Pattaya besteht nämlich noch ein dem menschlichen
Maßstab entsprechendes Verhältnis zwischen Zeit und Raum. Die Entfernungen
sind auf Schusters Rappen zu überwinden. Pattaya ist weit überschaubarer als
Bangkok. Es besitzt weder die Monumentalität noch den Prunk einer Weltstadt,
ist aber voll kleiner, interessanter Details, voller Zeichen, welche die soziale
und kulturelle Entwicklung einer an archäologischen Schichten reichen Stadt
ergänzen.
Unter dem Wort Archäologie sind hier auch die
soziokulturellen Ablagerungen zu verstehen, welche Pattayas rasanter Werdegang
vom idyllischen Fischerdorf zur pulsierenden Touristenstadt zurückgelassen hat.
Vorder- und Hinterseite können hier Kontraste bilden, ja Extreme berühren;
eine Mauer kann hier Welten trennen oder verbinden. Bewusst formuliere ich
meinen Ratschlag in der Möglichkeitsform „wäre", mag es doch fürs
erste bei diesem beklagenswerten Verkehr absurd erscheinen, sich in Pattaya zu
Fuß weiter zu bewegen. Und doch, wer den richtigen Zeitpunkt, die
entsprechenden Straßen und Gassen wählt, wird es nicht bereuen.
Widerwärtigkeiten, die sich einem dabei in den Weg stellen, sind wie Pillen,
die man schlucken, aber nicht kauen muss.
Wie es im Leben so ist, wer kein Ziel hat, der verläuft
sich; auch in Pattaya. Hier und heute nur eine Anregung aus der Fülle des
Angebots. Aus dem Bahttaxi heraus die einzelnen Mal- und Kopierateliers zu
betrachten ersetzt nie und nimmer den Vorzug des Besuches, mit Maler und Bild
auf gleicher Augenhöhe zu stehen; mit verweilendem Blick die Entstehung eines
Gemäldes, einer Abbildung, aus unmittelbarer Nähe zu verfolgen und mit diesen
begabten Kunstschaffenden ins Gespräch zu kommen.
Diese Fülle an Ateliers ist schon erstaunlich, die Qualität
geradezu bewundernswert, und erst die moderaten Preise für Farangs! Wer glaubt,
diese Kopien, dieses Kopieren sei seines Blickes nicht wert, der irrt. Verachten
ist leicht, doch Verstehen viel besser.
Das „Außergewöhnliche", das Original, gibt der Welt
wohl ihren Wert, das „Durchschnittliche", eben die Kopie, ihren Bestand.
Gewiss, diese Kopien wären ohne das Original nicht möglich. Ohne Kopien
hätten allerdings auch nur wenige Menschen die Freude und den Genuss des
Betrachters. Von den Originalen, die weltweit in den Depots von Kunstsammlungen
und Museen be- und verwahrt werden oder als Geld- und Spekulationsanlage in
Banksafes den Blicken einer weiteren Öffentlichkeit entzogen sind, will ich gar
nicht schreiben.
Mit ihren Kopien, die offen und ehrlich auch als solche
angeboten werden, leisten diese begabten Kunsthandwerker einen nicht zu
unterschätzenden Beitrag zum Kunstverständnis und öffnen vielen den Zugang
zum Original. Ihre Kopie, wo immer sie hängen wird, vertritt das Original; je
besser sie ist, um so origineller tut sie ihren Dienst. Kunst hat nicht nur die
Aufgabe, kostbar und einzigartig zu sein, Sichtbares zu zeigen, sondern vor
allem sichtbar zu machen. Unser Geist ist wie ein Fallschirm, er kann nur
funktionieren, wenn er offen ist und bleibt; vor allem für das Schöne und
Gute.
Ein Original, dessen Nachahmer besser sind, ist keines
Eines allerdings bleibt diesen Kopierenden erspart, die
Grenzerfahrungen, das Leiden und Erdulden, das die großen Künstler bei ihrer
Kreativität, Geburtswehen gleich, bis zum letzten gefordert und belastet hat.
Nicht umsonst sind viele aus ihren Reihen sehr jung, ja in der Blüte des Lebens
gestorben. Echte Künstler akzeptieren, dass wir das Leben nicht verlängern,
sondern nur vertiefen können. Bereits im 17. Jahrhundert notierte Robert Burton
in seinem Werk ,Anatomie der Melancholie’: „Künstler sind wahnsinnig".
Das Genie des spanischen Malers Dali, in Pattaya unter den Kopien ein Renner,
zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Betrachter seiner Bilder von
zerfließender Zeit und brennenden Giraffen nicht nur am Geisteszustand ihres
Schöpfers, sondern zuweilen auch am eigenen zu zweifeln beginnen. Sein
Ausspruch „Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Wahnsinnigen ist,
dass ich nicht wahnsinnig bin" sagt alles.
Die tragenden Gefühle, welche die großen Maler der
Originale lebendig und schöpferisch erhalten haben, waren Liebe, Glaube,
Begehren, Erotik, Hoffnung, Sehnsucht nach dem Unendlichen,
Begeisterungsfähigkeit und Übermut. Dies alles sind seit jeher schöpferische
Urkräfte. Sie vermögen Geist, Herz und Sinne in ungeahnte Höhen zu
katapultieren, in bedrückenden Einzelfällen bis zum Wahnsinn, zur geistigen
Umnachtung. Traurig, aber wahr: Die Kunst und das Lachen sind aus der Trauer
geboren. Weil Maler wie Musiker und Dichter alles stärker und intensiver
empfinden als andere Menschen, müssen sie sich mehr als andere quälen. Ihr
Bedürfnis nach fortwährender Selbstbestätigung hängt damit zusammen. In
ihrer Kunst, also in den Originalen, ist ihr Leben noch einmal, nur intensiver
und bewusster erhalten. In diesem Punkt haben es die Kopierenden leichter. Sie
nehmen es lockerer, malen aus Freude an der Sache und ohne jeglichen
Leidensdruck. Sie kopieren ja das fertige Kunstwerk ohne den Schöpfungsprozess
durchleiden zu müssen. Bei mir kommt die ironische Frage auf, ob sie das
wunderbare Lied meiner Lieblingspopgruppe „Element of Crime" kennen, in
dem es heißt: „Ich werde nie mehr so dumm sein wie weißes Papier. Wir sind
kein unbeschriebenes Blatt mehr. Wir werden mit jedem Jahr etwas weiser
und..."
Die von den Kopierenden geschaffene Wirklichkeit ist also
nicht die ganze Wahrheit. Sie ist aber ein Teil davon; je nach Qualität ein
ansehnlicher. Auch die Kopie eines Kunstwerks ist eine Botschaft aus einer
bestimmten Zeit, also ein Zeitdokument.
Erfahrung, das ist Bewusstsein des Augenblicks
Zum Schluss von der Kopie zurück zum untrüglichen Original.
Dies ist hier in Pattaya durchaus mach- und erlebbar. Wer zum Beispiel draußen
in Wongamat das „Art Café" aufsucht, kann – sozusagen zwischen den
Menügängen – wahre Künstler bei ihrer kreativen Arbeit beobachten, sogar
ein Gemälde kaufen und ein Original als Erinnerung mit nach Hause nehmen.
Mir war es vergönnt, die Entstehung eines Stillebens, eines
Blumenarrangements zu verfolgen. Beeindruckend, wie der junge Künstler aus
einem tiefroten ersten Punkt mit sicheren Pinselstrichen eine Rose zur
Entfaltung bringt. Mir war diese Rose im Augenblick wichtiger als das Stück
Brot in meiner Hand. Sie erinnert mich spontan an eine Begebenheit aus dem Leben
von Rainer Maria Rilke in Paris. Sinngemäß – also meine Kopie – erzähle
ich sie hier kurz nach:
Am Wege saß eine alte Bettlerin, stumm und unbeweglich. Sie
rührte sich nicht, und ohne jedes Anzeichen von Dankbarkeit nahm sie die Gaben
der Vorübergehenden entgegen. Der Dichter gab ihr nichts – sehr zur
Verwunderung seiner jungen Begleiterin, die selbst immer eine Münze für die
alte Frau bereit hatte. Vorsichtig fragte sie ihn, warum er nichts gebe. „Man
müsste ihrem Herzen etwas schenken, nicht ihrer Hand", sagte er.
Eines Tages erschien Rilke mit einer wundervollen, halberblühten Rose und
legte sie zart in die Hand der alten Bettlerin. Da geschah etwas Merkwürdiges.
Die Frau stand auf, griff nach seiner Hand, küsste sie und ging mit der Rose
davon. Eine Woche lang blieb sie verschwunden. Dann saß sie wieder an ihrem
alten Platz, stumm und starr wie zuvor. Das Mädchen fragte: „Wovon mag sie
die ganzen Tage gelebt haben?" Rilke antwortete: „Von der Rose."