Vorurteile

Franz Schmid

Man fährt am Abend in Pattaya die Central Road Richtung Sukhumvit entlang. Die Ampel in weiterer Entfernung springt auf Rot. Die Bremslichter des Vordermannes leuchten auf. Unbewusst geht man vom Gas, schaltet zurück und tritt auf die Bremse. Die Leuchtreklamen blinken, Fußgänger überqueren die Straße, in den Garküchen sitzen die Menschen zusammen und nun klingelt auch noch das Handy. Zwischendurch wird es wieder Grün und während man das Telefonat führt, setzt man die Autofahrt fort. Der geneigte Leser wird sich sicher fragen: was soll das jetzt? Ist das hier eine Abhandlung über das Autofahren in Pattaya oder die Gefahren des Telefonierens beim Wagen lenken? Nein, weit gefehlt.

Diese kurze Szenenbeschreibung soll deutlich machen, wie viele Eindrücke auf einen Menschen bei einer ganz alltäglichen Handlung – über die man schon gar nicht mehr nachdenkt – einstürmen. Und dabei wurde für diesen vergleichsweise kurzen Zeitraum nur ganz wenige Szenen genommen, die ein Mensch während einer knappen Minute wahrnimmt. Mit Sicherheit sieht der die Autos und Motorräder im Gegenverkehr, er hört die Musik vom CD-Spieler, nimmt die hübsche Frau am Straßenrand wahr und vieles mehr. Die menschlichen Wahrnehmungsorgane sind tagtäglich einem wahren Ansturm von Informationen ausgesetzt. Wären wir gezwungen, auf alle diese zu reagieren, dann wären wir als biologisches Mängelwesen total überfordert und nicht lebensfähig. Deshalb ist es wichtig, dass wir in der Lage sind, aus der Fülle der Informationen, diejenigen herauszuholen, die für unser Überleben unmittelbar wichtig und notwendig sind. Dies bedeutet natürlich, dass uns Informationen, die uns zunächst nicht so wichtig erscheinen, verloren gehen. Auf den ersten Blick erscheint dies nicht weiter tragisch. Doch wenn wir über den eigenen – und manchmal sehr engen Gesichtskreis hinausgehen – dann können die Konsequenzen verheerend sein.

Jeder Mensch versucht sich und seine Stellung in der Welt zu definieren. Wie macht er das eigentlich? Das geht nur durch Vergleiche mit anderen Menschen. Und da bei normalen Menschen ein gesundes Selbstwertgefühl herrscht, ist es natürlich so, dass man bei solchen Vergleichen selbst immer ein bisschen besser abschneidet als der andere. Auch dies ist eigentlich noch nicht schlimm. Gefährlich allerdings wird es, wenn solche Vergleiche nur anhand weniger und leicht messbarer Kategorien vorgenommen werden. Und hier sind wir wieder am Anfang angelangt.

Wenn ich mich mit einem anderen Menschen vergleiche, dann mache ich mir meist nicht die Mühe, dessen ganze Lebensgeschichte von Geburt an zu kennen und mich auch noch mit seinen spezifischen Lebensumständen zu befassen. Das wäre zu recht eine Überforderung und ein Zuviel an Information. Doch viele Menschen machen es sich sehr einfach und legen sich nur auf sehr wenige – manche gar nur eine – Kategorie fest. Und manchmal dient diese Kategorie nur dazu, vorgefasste Meinungen zu bestätigen. So werden Menschen allein anhand ihrer Hautfarbe, Rasse, Religion oder Staatszugehörigkeit (vor)verurteilt. Es gab einmal einen interessanten Versuch in einer Universität. In einer Klasse mit Studenten wurden zwei Gruppen gebildet, die sich nur durch die Farbe der Kugelschreiber unterschieden.

Nun sollten die Angehörigen der einen Gruppe die Angehörigen der anderen und der eigenen Gruppe anhand eines Fragebogens beurteilen. Heraus kam immer – und wen wundert es – dass die eigene Gruppe immer besser abschnitt als die anderen. Dabei kannten sich die Studenten überhaupt nicht und das einzige objektive Unterscheidungsmerkmal war die Farbe des Kugelschreibers. Jeder, der vorschnell über andere anhand weniger Kriterien urteilt, sollte sich diese Geschichte vor Augen halten.