Eine neue Chance für Europa

Franz Schmid

Nach den Abstimmungsniederlagen für die Europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden machte sich in Brüssel und den europäischen Hauptstädten der Katzenjammer breit. Beide Länder gehören zu den Gründungsmitgliedern der heutigen EU und setzten mit den Abstimmungsergebnissen Signale, die weitreichende Folgerungen haben. Die Verfassung muss in allen 25 EU-Mitgliedstaaten gebilligt werden, um in Kraft treten zu können.

Die Bundesregierung nahm die Ergebnisse mit Bedauern zur Kenntnis, will aber an ihrem Kurs festhalten. Frankreich nimmt denselben Standpunkt ein. Das hat gute Gründe. Es ist nicht die erste Krise, die bewältigt werden muss.

Bereits 1954 scheiterte die erste europäische Verfassung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) und der Europäischen Verteidigungsgesellschaft (EVG) in der Französischen Nationalversammlung. Die damalige Bundesregierung suchte sofort nach Alternativen. Das Resultat waren die Römischen Verträge der EWG und EURATOM.

Als 1962 auf die französische Initiative hin eine Politische Union Europas gegründet werden sollte, und dieses Vorhaben ebenfalls scheiterte, kam es zu einer Zweier-Union, bestehend aus Deutschland und Frankreich mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.

Anfang der 1980er rieb sich die Europäische Gemeinschaft an der Agrarpolitik und an Finanzierungsfragen. Die Gemeinschaft drohte auseinander zu brechen. Die Krise wurde gemeistert und eine Einheitliche Europäische Akte und die erste umfassende Reform der Gründerverträge wurden auf den Weg gebracht.

Ausschlaggebend bei den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden waren die Ängste der Menschen: die Angst um den Arbeitsplatz und die Globalisierung. Es gelang der führenden politischen Klasse in beiden Ländern nicht, diese Ängste auszuräumen.

Ein weiterer Punkt war die schnelle Erweiterung der EU mit Ländern des ehemaligen Ostblocks. Das Wirtschaftsgefälle zwischen diesen Ländern und den so genannten Kernländern der EU ist gewaltig. Billige Arbeitskräfte sind reichlich vorhanden und das drückt auf die Löhne, mal abgesehen von Standortfragen der großen und mittleren Konzerne.

Als Folge der Abstimmungsergebnisse entstand auch sofort eine Diskussion um ein Auseinanderbrechen der Währungsunion. Doch sowohl die Bundesregierung, die EU und die Europäische Zentralbank bezeichneten dies als „völligen Unsinn" und „absurd". Jedoch hatte der Ausgang der Abstimmungen Auswirkungen auf die Devisenmärkte und der Euro gab gegenüber anderen Währungen nach. Für die Exportwirtschaft mag dies erfreulich sein, doch Zweifel an der politischen Stabilität der EU geben Währungsspekulationen einen breiten Raum.

Wirtschaftsfachleute sehen die Möglichkeit eines Scheiterns der Währungsunion. „Es ist durchaus möglich, dass manche Mitgliedsländer aus nationalem Interesse eines Tages austreten", sagte Paul de Grauwe, Währungsexperte an der Universität Leuven und früherer Kandidat für den Posten des EZB-Präsidenten. „Damit die Währungsunion funktioniert, brauchen wir mehr politische Integration", fügte er hinzu.

Ein weiterer Punkt, der den Bürgern vieler Mitgliedsländer der EU Sorgen bereitet, sind die Verhandlungen mit der Türkei über einen EU-Beitritt bzw. einer „privilegierten Partnerschaft". Obwohl bereits Millionen von türkischen Arbeitnehmern in Ländern der EU seit Jahrzehnten leben, ist es nicht gelungen, diese vollständig in ihrer Mehrheit zu integrieren. In Groß- und Mittelstädten sind regelrechte türkische Viertel entstanden, die von vielen mit Misstrauen beäugt werden.

Eine Aufnahme der Türkei, in der immerhin 70 Millionen überwiegend muslimische Menschen leben, würde diese auf Grund der unterschiedlichen Geburtenraten dann bald zum bevölkerungsreichsten EU-Staat machen. Ebenso ist die Vorstellung von der allgemeinen Niederlassungsfreiheit der Türken im EU-Gebiet für viele Europäer schwer zu verkraften.

Doch letztendlich ist die Aufnahme der Türkei kaum zu vermeiden. Einerseits durch deren historische Beziehungen zu Europa, und andererseits ist die Türkei die Brücke zu Asien, einem wachsenden Wirtschaftsmarkt.

Die Schweizer Bürger haben in ihrer Abstimmung am vorletzten Sonntag jedoch andere Zeichen gesetzt. Die Mehrheit sieht nur Vorteile im freien Reiseverkehr und Warenaustausch und hat sich daher für einen Beitritt des Landes zum Schengener-Raum ausgesprochen.

Die Idee eines vereinten Europas sollte man nicht vorschnell zu Grabe tragen. Was nötig ist, dass eine breite Aufklärung über die Ziele und Vorteile einer europäischen Verfassung in Gang kommt. Ein gemeinsamer Nenner aller EU-Staaten muss gefunden werden, und kein Staat kann erwarten, dass seine nationalstaatlichen Interessen in jedem Falle Berücksichtigung finden. So sind die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden auch als neue Chance zu verstehen, die nicht ungenutzt vorüber gehen sollte.