Älteste europäische Republik im Clinch zwischen Eigenständigkeit und Integration
Bernhard Schindler,
Kölliken/Schweiz
Die Schweiz tut sich schwer mit Europa. Einerseits sind
Exportindustrie, Finanzwelt und Dienstleistungssektor abhängig vom riesigen
europäischen Binnenmarkt. Jeder zweite Franken wird in der EU verdient.
Anderseits befürchten viele Schweizer ein Ende ihrer typisch
schweizerischen Freiheiten.
Seit dem Westfälischen Frieden 1648 ist die
Eidgenossenschaft ein eigenständiger Staat außerhalb des bis zum Wiener
Kongress existierenden Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen. 1815
garantierten die Siegermächte über Napoleon und Frankreich der Schweiz die
ewige, bewaffnete Neutralität.
Nach dem Ersten Weltkrieg war die Schweiz Mitglied des
Völkerbundes. Bedenken wegen der Neutralität verhinderten zunächst nach
1945 den Beitritt des Alpenlandes zur UNO (Beitritt erst 2002).
Wirtschaftspolitisch schloss sich die Schweiz zusammen mit Irland, Schweden,
Finnland, Österreich und anfangs auch Portugal, Großbritannien und
Dänemark der Freihandelszone EFTA an, als die ökonomische Verflechtung der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), später Europäischen Union
(EU), immer deutlicher wurde. Gegenüber der Europäischen Einigungsbewegung
aber blieben die Schweizer nicht zuletzt wegen der Überfremdungsgefahr bei
ungehindertem Personenverkehr skeptisch.
Die Pan Europa-Idee des Österreich-ungarischen Grafen
Richard Coudenhove-Kalergi wurde bereits 1923, noch im schaudernden Andenken
an das sinnlose Völkermorden im Ersten Weltkrieg, geboren. Der Diplomat
flocht ein großes Beziehungsnetz, das diesen Gedanken verbreitete. Die
Schweiz, in die Coudenhove-Kalergi 1938 emigrieren musste, stand mit ihrer
Kultur-, Religions- und Sprachenvielfalt sowie dem föderalistischen System
des Bundesstaates quasi Pate zur späteren Europa-Union. Winston Churchill
schaffte in seiner legendären Zürcher Rede von 1946 den Durchbruch in der
europäischen Politik. Er sah in einem europäischen Zusammenschluss die
einzige Garantie für einen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent.
In den späten achtziger Jahren kam Bewegung in die
Europäische Einigung.
Der Maastricht-Vertrag der damals 12 europäischen
Staaten von 1991 sah eine Mitgliedschaft ohne Mitbestimmung, aber die
gleichen Rechten und Pflichten für die bisherigen EFTA-Staaten vor. In
einem Europäischen Wirt-
schaftsraum „EWR" sollten die bisherigen EFTA-Partner zu vollwertigen
Unionsmit-
gliedern in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belangen werden.
Die Schweiz mit einer Rekordzahl an Ausländern hatte
erhebliche Bedenken gegen die Personenfreizügigkeit innerhalb der
Europäischen Union. Der EWR-Vertrag war deshalb besonders auf die Schweiz
zugeschnitten und sollte die Einwanderung von EU-Bürgerinnen und Bürgern
in soliden Grenzen halten. Die Schweiz hätte im EWR ein Mitsprache-, aber
kein Mitbestimmungsrecht gehabt. Sie hätte wie die anderen EFTA-Staaten den
Acquis Communautaire vollständig übernehmen müssen. Der Schweizerische
Bundesrat schätzte die Stimmung im Lande völlig falsch ein und sprach im
Vorfeld zur Abstimmung über den EWR-Beitritt gar von einem „Trainingslager
für den späteren EU-Beitritt". Gleichzeitig deponierte der Bundesrat
ein EU-Beitrittsgesuch der Schweiz, das seither in irgendeiner Schublade in
Brüssel verstaubt.
Die Schweizerinnen und Schweizer quittierten diese
großen Teilen des Volkes unsympathische Haltung des Bundesrates im Dezember
1992 in einer denkwürdigen Abstimmung mit dem wuchtigen Stände-Nein fast
aller deutschsprachigen Kantone und einem Volks-Nein, das aber relativ
gering ausfiel (nur einige wenige zehntausend Stimmen gaben den Ausschlag).
Seither setzt die Schweiz ihre Integration auf dem Weg der bilateralen
Abkommen fort.
Wäre die Schweiz Mitglied des EWR geworden, so hätten
sich wohl die anderen EFTA-Staaten genau überlegt, ob sie voll der Union
beitreten wollten oder lieber aus dem EWR ein kraftvolles Gebilde schaffen
sollten, in welchem auch andere beitrittswillige Staaten aufgenommen werden
konnten. Nach dem schroffen Nein der Eidgenossen aber wandten sich
insbesondere Schweden und Österreich direkt an Brüssel und wurden
EU-Mitglieder. Die Schweiz wurde isoliert, der EWR bestand jetzt nur noch
aus Norwegen und Liechtenstein, und die EU strebte immer mehr einer auch
politischen Union entgegen.
Aus der Schwächeposition heraus gelang es der Schweiz
aber doch, mit der Union in bilateralen Verhandlungen ein Vertragswerk
zusammenzustellen, das beider Ansprüche befriedigte. Die Schweiz muss sich
aber bewusst sein, dass sie zusehends marginalisiert wird, das heißt, dass
sie ohne Mitspracherecht oder gar Mitbestimmung nachvollziehen muss, was in
Brüssel beschlossen wird.
Waren im ersten Verhandlungspaket insbesondere die
Bereiche der vier Freiheiten in Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und
Kapitalverkehr bereinigt worden, geht es im zweiten Paket, das diesen Sommer
in der Schweiz zur Abstimmung steht, um den Beitritt der Schweiz zum
Schengen- und Dublin-Abkommen, also Mitarbeit bei der internationalen
Verbrechensbekämpfung und gemeinsamer Ausgestaltung der Migrationspolitik,
und um den freien Personenverkehr auch für Bürgerinnen und Bürger der
neuen Unions-Länder aus dem Osten. Ist das Schengen-/Dublin-Abkommen zur
Überraschung vieler Europäer am 5. Juni dieses Jahres von einer
respektabeln Mehrheit angenommen worden, sieht es so aus, als ob die
Personenfreizügigkeit für Osteuropäer auf größeren Widerstand stößt.
Zwar hat das Parlament in Bern Maßnahmen in die Wege geleitet, welche ein
Lohndumping von polnischen oder ungarischen Arbeitern verhindern soll. Aber
insbesondere die Arbeiterschaft fürchtet Lohnsenkungen, wenn die billigeren
Arbeitskräfte aus dem Osten in Massen in die Schweiz strömen sollten.
Nun haben das Schengen-/Dublin-Abkommen und die
Freizügigkeit gegenüber Ost-Migranten wenig miteinander zu tun. Trotzdem
hat die außenpolitische Kommissarin Benita Ferrero Waldner sich bemüßigt
gefühlt, der Schweiz den Tarif durchzugeben: Bei einer Ablehnung der
Freizügigkeit würde auch das Schengen-Abkommen nicht in Kraft treten
können.
Damit hat die einstige österreichische Vizekanzlerin
ihre Kompetenzen nicht nur überschritten (Beschluss fasst nicht die
Kommission, sondern die Versammlung der EU-Regierungschefs), sondern erst
noch in die falsche Schublade gegriffen: Nicht nur die
Schengen-/Dublin-Verträge sind gefährdet, sondern sämtliche bilateralen
Abkommen, welche die Schweiz mit Brüssel abgeschlossen hat. Denn es ist
schon in den bilateralen Verträgen der ersten Runde klar gesagt, dass es
für die Schweiz kein Rosinenpicken mehr gebe, sondern nur noch Nachvollzug
aller Gesetze aus Brüssel oder aber Kündigung der bisherigen Abkommen!
So sieht sich die Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts
beinahe in der Position Formosas oder Taiwans: Um sich eine optimale
Freiheit mit all den typisch schweizerischen Volksrechten von Initiative und
Referendum zu sichern, müssen die Schweizer der mächtigen EU überall
nachgeben, wo Belange der europäischen Länder berührt werden.
Vielleicht ist die tiefe Krise Europas nach gescheiterter
EU-Verfassung und Finanzkrieg zwischen England und Frankreich eine Chance
auch für die Schweiz. Europa muss sich demokratisieren, braucht eine
föderalistische Verfassung und viel mehr Eigeninitiative der einzelnen
Institutionen. Wie in der Schweiz sollte in der Gemeinde behandelt werden,
was den Kanton nichts angeht, und der Bund sollte in jenen Belangen nicht
dreinreden, die Sache der Kantone sind (Subsidiaritätsprinzip). Wenn die
Aufgabenverteilung in der EU wieder bei der Basis beginnt und auch der
europäische Gedanke im Volk verwurzelt bleibt und nicht von einer Regierung
einfach übergestülpt wird, dann beginnen hoffnungsvollere Zeiten für die
EU, aber auch rosigere Möglichkeiten für die Schweiz, einer dem
schweizerischen politischen System angeglicheneren EU doch noch beizutreten.