Arbeiten bis zum Umfallen?

Franz Schmid

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass die gesetzlichen Rentenversicherer gegen Jahresende ein zinsloses Darlehen von 400 Millionen Euro beim Bund aufnehmen müssen. Der Verband der Rentenversicherer (VDR) bestätigte, die Rentenversicherer benötigten besondere Finanzspritzen des Bundesfinanzministers, und zwar schon ab September dieses Jahres.

Die Versicherer werden zum Kredit greifen müssen, da die vorgezogenen monatlichen Raten des Bundeszuschusses von insgesamt fast 80 Milliarden Euro nicht mehr ausreichen werden. Das Bundessozialministerium bezeichnete den Kreditbedarf hartnäckig als „Spekulation". Aus dem Sozialministerium verlautete: „Es gibt kein Rentenloch. Weder jetzt noch in den kommenden Monaten. Die deutsche Rentenversicherung ist die verlässlichste auf der Welt, Meldungen über Rentenlöcher sind Angstmacherei."

Doch alle Beteuerungen halfen nichts, die Renten sind ins Gerede gekommen. Tatsache ist, das die rückläufigen Einnahmen der Rentenversicherer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirtschaftsflaute stehen, denn für jeweils 100.000 neue Arbeitslose fehlen 300 Millionen Euro Rentenbeitrag pro Jahr. Es fehlt einfach an Beitragszahlern.

Es fanden sich auch gleich einige, die glauben, Patenlösungen anbieten zu müssen. Die meiste Aufmerksamkeit erregte der Vorschlag des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Klaus Zimmermann. Er forderte eine Anhebung des Renten-Eintrittsalters auf 70 Jahre! Gleichzeitig verlangte er mehr Teilzeitarbeit und niedrige Tarifgehälter für Ältere. Der Mann hat in ein Wespennest gestochen, und die Reaktionen kamen prompt.

Die DGB-Vizevorsitzende Ursula Engelen-Kefer machte in einem Zeitungsinterview darauf aufmerksam, dass in den vergangenen drei Jahren mehr als eine Million sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse verloren gegangen sind. Gleichzeitig jedoch „boomen die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse". Dadurch entgehen den Rentenkassen erhebliche Einnahmen.

Aber es ist ja Wahlkampf, und die Rentner (auch die zukünftigen) müssen umworben werden. Die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, stieß daher ins selbe Horn: „Mit mir wird es keine Rentenkürzungen geben." Die dramatische Einnahmesituation der Rentenversicherer kann nach ihren Worten nur durch Schaffung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze entschärft werden.

Zimmermanns Vorschläge sind jedoch weltfremd. Zwar ist die Lebenserwartung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert deutlich gestiegen, jedoch ist der Anteil der hauptberuflichen Lebensphase drastisch gesunken. Während im Jahre 1871 diese noch zwei Drittel ausmachte, wird sie nach Schätzungen von Sozialwissenschaftlern nur noch bei etwas über 40 Prozent liegen. Gründe dafür sind längere Ausbildungszeiten und die Technisierung der Arbeitswelt, bei der viele Arbeitsvorgänge durch Maschinen oder Computer ersetzt wurden. Ein heute in Deutschland geborener Mann hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75,18 Jahren, eine Frau von 80,88 Jahren.

Das würde bedeuten, dass – statistisch gesehen – ein Mann nur etwas mehr als fünf Jahre in den Genuss der Rente kommt. Geht man dann von einem 45- oder 50-jährigem Berufsleben aus, ist das geradezu lächerlich. Jede private Versicherung würde hier vor den Kadi gezogen werden, da Leistung und Gegenleistung in einem unsagbar schiefen Verhältnis liegen.

Glaubt der Mann ernsthaft, dass es in unserem heutigen modernen Berufsleben für Ältere überhaupt noch Platz gibt? Man braucht sich doch nur den Stellenmarkt in den großen Zeitungen anzugucken. Gefordert werden „junge, dynamische Mitarbeiter", meist im Alter unter 35 Jahren.

Erschreckend in diesem Zusammenhang ist jedoch auch, das fast 30 Prozent aller Haushalte in Deutschland die Altersarmut droht. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge liegt die De-
ckungslücke bei den heutigen 40- bis 49-Jährigen bei 215 Euro. Aus mancherlei Gründen haben diese Haushalte nicht für ihre Rente vorgesorgt. Die Hauptgründe sind Arbeitslosigkeit und gescheiterte selbständige Unternehmertätigkeit. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen ihre Lebenserwartung unterschätzen. Durch Absenkung der gesetzlichen Renten entsteht eine so genannte Rentenlücke. Von letzterem sind vor allem junge Leute und Frauen betroffen.

Die Lösung aller dieser Probleme kann nicht durch eine Anhebung des Rentenalters erreicht werden. Vielmehr sollte die vorhandene Arbeit auf die Schultern aller Erwerbstätigen gleichmäßig verteilt werden. Denn bisher nicht bekannt ist, wie sich eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf die Lebenserwartung auswirkt. Viele werden dann schon vor dem Erreichen des Rentenalters umfallen.