Trotzdem sind beide Verlierer
Franz
Schmid
Die Wähler haben Rot-Grün bei der Bundestagswahl am 18.
September zwar abgewählt, aber nicht für einen vollständigen Wechsel
gesorgt.
Zwei Machtmenschen wollten Kanzler werden, aber keiner
konnte die Mehrheit erringen, vielmehr wurde den großen Parteien ein
empfindlicher Dämpfer verpasst und die kleinen Parteien legten zu.
Beide Volksparteien beanspruchen den Wahlsieg. Das ist in
der deutschen Nachkriegsgeschichte einmalig und erinnert an die
amerikanischen Wahlen des Jahres 2000, als sich sowohl Al Gore als auch
George W. Bush gleichzeitig zu den Wahlsiegern erklärten. Doch die Sieger
sind im Falle Deutschlands ebenfalls die Verlierer.
Die CDU/CSU konnte das Wahlergebnis der letzten
Bundestagswahlen nicht erreichen und musste Verluste einstecken. Es war
eines der schlechtesten Wahlergebnisse bei einer Bundestagswahl. Speziell
verlor diesmal auch die CSU im schwarzen Bayern prozentual deutlich mehr als
die gesamte Union. Die Fraktionsgemeinschaft ist zwar zur stärksten
Fraktion geworden, doch das reicht nicht, um das Wunschbündnis Schwarz-Gelb
einzugehen. Könnte es daran liegen, dass man Frau Merkel nicht besonders
mag?
Obwohl auch die SPD deutliche Verluste erlitt, sieht sich
Bundeskanzler Schröder als Wahlsieger: „Diejenigen, die einen Wechsel im
Amt des Bundeskanzlers erstreben wollten, sind grandios gescheitert",
sagte Schröder.
Vor allem die Linkspartei mit Gregor Gysi und Oskar
Lafontaine kostete der SPD Stimmen. Sie zieht daher in Fraktionsstärke in
den neuen Bundestag ein, obendrein wurde sie noch stärker als die Grünen.
Alle sahen sich als Sieger, bis auf den
Grünen-Spitzenkandidaten Joschka Fischer. Er blieb näher an der Realität,
als er nach den ersten Hochrechnungen erklärte: „Rot-Grün hat keine
Mehrheit". Zünglein an der Wahl könnte die Nachwahl in Dresden
werden. Möglicherweise könnte diese zu weiteren Überhangmandaten führen
und darüber entscheiden, wer nun wirklich die stärkste Fraktion im
Bundestag stellt.
Unterschiedliche Reaktionen löste der Ausgang der
Bundestagswahl bei der deutschen Wirtschaft aus. Jürgen Thumann, der
Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), empfand das
Ergebnis als „bitter enttäuschend", da dadurch die Regierungsbildung
erschwert werde. Der Präsident des Bundesverbandes des Groß- und
Außenhandels (BGA), Roland Börner, bedauerte, dass es zu klaren Reformen
nach diesem Ergebnis nicht kommen werde. In weite Ferne gerückt seien nun
ein einfaches Steuersystem, niedrigere Lohnnebenkosten und eine
finanzierbare Gesundheitsreform.
Der Konjunkturexperte des Rheinisch-Westfälischen
Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Roland Döhrn, sagte in einem
Zeitungsinterview: „Die Unsicherheit für die Wirtschaft wird erst einmal
größer. Deutschland bleibt in vielen Bereichen eine Baustelle." Etwas
optimistischer war dagegen der Chef des Kölner Instituts der Deutschen
Wirtschaft (IW), Michael Hüther. „Auch mit einer großen Koalition geht
die Welt nicht unter", sagte er.
Der Bundespräsident spielt bei dieser Hängepartie keine
entscheidende Rolle. Laut Verfassung muss er dem Bundestag einen
Kanzlerkandidaten vorschlagen. Aber er wird dies nur tun, wenn er davon
überzeugt ist, dass dieser Kandidat (oder Kandidatin) eine Mehrheit der
gewählten Abgeordneten des Bundestages hinter sich bringen kann. Also
müssen die Parteien so lange miteinander verhandeln, bis diese „Kanzlermehrheit"
zustande kommt. Es kann dann bis zu drei Wahlgänge geben. Erringt der/die
Kandidat/in im letzten Wahlgang nur eine einfache (relative) Mehrheit, kann
der Bundespräsident laut Grundgesetz „binnen sieben Tagen entweder ihn
(sie) ernennen oder den Bundestag aufzulösen." Das hätte die Bildung
einer Minderheitsregierung zur Folge und Neuwahlen wären mehr als
wahrscheinlich.
Auch das wäre in der Geschichte der Bundesrepublik
einmalig. Der Wähler hat gesprochen und die Politiker sind nun gefordert,
diesem Wählerwillen zu entsprechen. Deutschland steht vor zu großen
Problemen, als dass das Wahlergebnis politischen Rankünen zum Opfer fallen
sollte.