„Die Wüste lebt“ statt blühender Landschaften

Franz Schmid

Mit den neuesten Wanderungszahlen des Statistischen Bundesamtes ist eine Problematik wieder ins Blickfeld gerückt, die Politik und Experten seit langem beschäftigt, aber weit von einer Lösung entfernt ist: Die Abwanderung vor allem junger Leute aus Ostdeutschland hat sich im vergangenen Jahr erneut fortgesetzt, und mittlerweile beträgt der Bevölkerungsverlust in der Ex-DDR seit 1991 rund 900.000 Menschen. Insgesamt verloren die neuen Länder in diesem 14-Jahres-Zeitraum 2,18 Millionen Bürger, während nur 1,28 Millionen aus dem Westen zuwanderten. Expertenberechnungen besagen, dass die Einwohnerzahl im Osten, die 2001 noch 13,7 Millionen betrug, bis 2020 auf rund zwölf Millionen zurückgegangen sein wird. Die Folgen sind gravierend: Die Kommunen, deren Stadtbild manchmal schon den Eindruck erweckt, es sei tiefste Urlaubszeit, ziehen weniger Steuern ein, das Bildungsniveau sinkt, qualifiziertes Personal fehlt, die Konsumnachfrage geht zurück, und zahlreiche Wohnungen bleiben leer. 15 Jahre nach der deutschen Einheit stehen die Zeichen auf Alarm.

Spricht man mit Ostdeutschen, sind es zwar vorwiegend fehlende Arbeitsplätze in den neuen Ländern oder niedrigere Verdienstmöglichkeiten, welche die überwiegend jungen Leute aus ihrer Heimat treiben. Als weitere Gründe führt der Autor Ivo Bozic in „Jungle World" auch kulturelle Öde in bestimmten ostdeutschen Regionen, eine teilweise immer noch autoritär geprägte Gesellschaft und den oft als spießig empfundenen Alltag an. Und die staatliche Sparwelle führt dazu, dass die Zahl sozialer und kultureller Einrichtungen eher noch abnimmt. Neu hinzugekommen als Ausreisemotiv sind laut Bozic rechtsextremistische Vorfälle an vielen Schulen, in Jugendclubs und auf der Straße.

Das Problem wird noch verschärft durch die demographische Entwicklung. So verharrt nach den Worten des Dresdner ifo-Forschungsdirektors Marcel Thum die Geburtenrate im Osten auch im zweiten Jahrzehnt nach der Einheit noch unter der ohnehin schon niedrigen des Westens. Und weil überwiegend junge, erwerbstätige Menschen die neuen Länder verlassen, geht gerade die Generation, die selbst wieder Kinder bekommt. Laut Thum wird das durchschnittliche Alter der Bevölkerung im Osten von heute 42,6 Jahren bis zum Jahr 2030 auf 49,7 Jahre ansteigen.

Hinzu kommt, dass die neuen Länder überwiegend von den jungen Frauen verlassen werden. Während bundesweit auf 100 Männer 98 Frauen gezählt werden, lautet das Verhältnis in den neuen Ländern 100 zu 89. Nach Berechnungen des Berliner Demographie-Instituts wird die Quote 2020 in Thüringen auf 100:83 und in Sachsen auf 100:86 absinken.

Die Magdeburger Sozialwissenschaftlerin Christiane Dienel sprach kürzlich in der „Zeit" von einer „Spaltung der Lebenslagen entlang der Klassengrenzen". Vor allem bildungsorientierte junge Frauen aus den Kleinstädten ziehe es in den Westen. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sie Probleme mit den ostdeutschen Männern haben, von denen mehr als im Westen arbeitslos, dem Alkohol zugeneigt, rechtslastig oder immobil seien. „Solch einen Partner können sie sich nicht vorstellen", sagt Dienel, nach deren Erkenntnissen eher jene Mädchen im Osten bleiben, „die sich am Arbeitsmarkt als chancenlos erleben".

Bislang zeichnete sich die Politik eher durch Hilflosigkeit aus, trotz mahnender Worte insbesondere ostdeutscher Politiker. Für konsequente Hilfsprogramme, wie sie etwa der Ökonom Claus Noé nach dem Muster der früheren Zonenrandförderung vorschlägt, fehlt das Geld, für die Umwidmung so mancher Aufbau-Ost-Hilfen die Fantasie.

Immerhin hat die Wissenschaft jetzt einen Anfang gemacht. Anfang September stellte die Fachhochschule Magdeburg-Stendal zwei Forschungsprojekte vor, die die Abwanderung junger Menschen stoppen und Rückkehrer anlocken soll. Ziele sind unter anderem eine Stärkung der Identifikation mit der Heimat und eine familienfreundlichere Ausstattung der Hochschulen. (AP)