Auch die Summe der Erfahrungen kennt ihre Additionsfehler

Felici Curschellas
Wie jede und jeder habe auch ich meine bescheidenen, aber für mich überaus wichtigen Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Zu meinem Glück durfte ich sie - dank meiner Entscheidungsfreudigkeit und wohl auch meines Glücks - noch mit jugendlichem Elan machen.
Dabei habe ich gelernt, dass ein bescheidenes Selbst zu werden, unendlich mehr ist als ein bedeutendes Ich. Am Ende zählt nicht der Erfolg, sondern nur das Menschliche. Unser letzter Job besteht nicht darin, eine Erfolgsbilanz zu ziehen, sondern sich Rechenschaft abzulegen über unser Verhalten gegenüber anderen Menschen, vor allem gegenüber den eigenen.
„Alle, die glücklich sind, sind es, weil sie das Glück anderer gesucht haben“, lehrt der Buddhismus. – Da ich viel von anderen gelernt und sehr viel gelesen habe (wer das tut, braucht nicht alle schmerzlichen Erfahrungen selber zu machen!) lasse ich als Zeichen des Dankes auch andere an meinen Erfahrungen teilhaben. Also, wer will, der darf weiter lesen.
Wer sich für längere Zeit hier in Pattaya aufhält, macht so seine Erfahrungen. Besuche ich ein Lokal – wohl selten ist die Auswahl so groß und interessant wie hier – werde ich ungewollt Zeuge von unüberhörbarem Erfahrungsaustausch.
Lasse ich mich einfach auf einer Sitzfläche, Bänke gibt es so wenige, an der Beach nieder und komme so mit den Sitznachbarn, den Farangs eben, ins Gespräch, ist auch hier immer wieder von Erfahrungen die Rede. So erfahre ich, dass viele sich in ihrer ersten Lebenshälfte bemüht haben, alles zu bekommen, zu gewinnen, zu erhalten, festzuhalten und so ihren Besitz aufzubauen. Man(n) – es sind hier ja selten Farang-Frauen, mit denen ich ins Gespräch komme – verleiht allem, was einem gehört seine Prägung.
Man drückt der Welt seinen Stempel auf. Wo man gewirkt hat, wo man gegangen ist, hat man Spuren hinterlassen. Das war jeweils ein Erfolgserlebnis. So entstanden nach und nach die eigene Weltanschauung, der Glaube, der tägliche Rhythmus, die Moral, die Freundschaften und die eigene Kollektionen an Eigentum. Das war die so nötige Übung des Aneignens. Durch sie hat man sich heimisch auf der Welt gefühlt, hatte man hier eine Bleibe, umgeben von den Dingen, welche die eigene Handschrift trugen.
Heute, hier in Pattaya, längst in der zweiten Lebenshälfte, wird eine andere Übung, eine weitere Erfahrung eingefordert – bei denen, die weiter reifen wollen: Loszulassen, abzugeben und zu erleben, dass einem nichts gehört, nichts gehören kann, überall die Begrenztheit des eigenen Einflusses realisieren und begreifen, dass nichts gleich bleibt, dass alles im Fluss ist.
Erst mag es einem Angst machen; mag sein, als würde man sein Leben weggeben, weil das Leben an dem hängt, was einem gehört und woran man glaubt. Es wird einem so sein, als würde man einem in den Rücken fallen und einen verraten.
Und wenn man etwas nicht loslassen kann, wird man das eigenartige Gefühl haben, sich selbst zu zerteilen und zu zerreißen, wenn wir es dann doch loslassen. Und gerade in dieser Zerreißprobe erweitert sich unser Leben, wird es noch schöner, intensiver und reicher.
Der Dichter Jean Paul schreibt an einer Stelle: „Das Leben gleicht einem Buch. Tore durchblättern es flüchtig; der Kluge liest es mit Bedacht, weil er weiß, dass er es nur einmal lesen kann.“