Kurt Krieger
Einst war unser Mitteleuropa der „Nabel der Welt“. Karl der Grosse, Martin
Luther, Paracelsus, Robert Koch, Albrecht Dürer, Lukas Cranach, Wolfgang von
Goethe, Friedrich Schiller, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart,
Gottlieb Daimler, Rudolf Diesel, Kopernikus, Albert Einstein und viele
andere Größen ihrer Zeit begründeten und festigten den Ruf unserer Heimat
als „Kultur des Abendlandes“.
Und heute? Die Großen dieser Zeit kommen nicht mehr aus unserem Land. Unsere
Genies sind Geschichte.
Vielen Menschen unserer Zeit ist indes das Wort „Geschichte“ im Zusammenhang
mit unserer Kultur eher eine missliebige Erinnerung an Schulzeiten; galt es
doch permanent Jahreszahlen auswendig zu lernen. Viele Gedenktage mit
besinnlichem oder religiösem Hintergrund erreichen das Empfinden der Bürger
nicht mehr. Die christlichen Feiertage mag schon jeder zweite Bürger nicht
mehr zu deuten. Im Gegenteil, heute nervt es gar so manch einen
Zeitgenossen, wenn von Politikern und verschiedenen Interessens- und
Glaubens-Gruppierungen die jüngere Geschichte wach gehalten wird. Hauptsache
ist, es ist ein Feiertag, den der Arbeitgeber bezahlt und an dem man hinaus
ins Grüne fahren kann.
Aber machen wir uns bewusst: Es ist erst eine Generation her, dass ein Krieg
25 Millionen russischen Menschen das Leben gekostet hat. Auf Deutschland
übertragen würde dies der Ausrottung der Gesamtbevölkerung von
Süddeutschland gleichkommen. Der Krieg kostete sechs Millionen Deutschen und
ebenso vielen Juden das Leben, einer Zahl, die der Einwohnerzahl von
Österreich und der Schweiz zusammen nahe kommt.
So wie wir mit unserer Geschichte umgehen, gehen wir aber auch mit unseren
Traditionen um. In den bayrischen und tirolerischen Dörfern werden
heutzutage die Kultur und die Tradition auf den Wirtshaus-Bühnen als
Heimatabend feilgeboten. Schuhplattelnde Holzhackerbuam halten die Kultur
unseres Landes am Köcheln.
Aus der Geschichte eines Landes entwickelt sich aber auch die gelebte Kultur
und Lebensart der Bevölkerung. So wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen,
gehen wir auch mit unserer Alltagskultur um. Unsere Vita ist indes
untrennbar mit unserer täglichen Lebensweise verflochten. Wir haben uns zu
Mitläufern entwickelt, zu reinen Ego-Pragmatikern. Nur was uns nützt hat
Wert, wir sind degeneriert zu Persönlichkeiten ohne Stil.
Unsere „Generation des Vergessens“ und des Konsumrausches hat ihre eigene
Identität verloren. Wir leben in einer Zeit des Materialismus - ausgerichtet
nur noch nach Besitz und Gewinn - und entwickeln uns hin zu einem
Kultur-Banausentum. Das Verständnis für eine gewisse „Werte- und
Geisteshaltung“ ist uns abhanden gekommen.
Kultur aber ist die Gesamtheit der geistigen Lebensformen und
Lebensäußerungen eines Volkes (Duden). Ich empfinde, unser Kultur-Niveau ist
auf einem erschreckend niedrigen Niveau angelangt.
Weil Bildung den Staat Geld kostet, und er keines mehr hat, ist Deutschland,
„das Land der Dichter und Denker“, heute auf dem Weg zum
Bildungs-Schlusslicht Mitteleuropas – man spricht von „Bildungs-Notstand“!
Auch Kleidung ist Kultur – und da mangelt es ebenfalls in den Schulen. Wie
soll die heute miserabel ausgebildete Jugend der kommenden Generation eine
Geistes- und Wertehaltung vermitteln? Kein Wunder also, wenn binnen einer
Generation unser geistiges Kulturerbe verschwindet.
Verloren ist auch eine gewisse Gesprächskultur. Heute weiß jeder alles oder
besser als der Andere. Die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation
und Auseinandersetzung, an deren Ende ein produktives Ergebnis steht, ist
verloren gegangen. Wir haben uns zu einer passiven Generation von Meckerern
entwickelt. Noch heute liegt mir der Rat meines Vaters in den Ohren „Bub,
meckere nie, gehe hin, versuche es besser zu machen. Wenn du’s nicht kannst,
dann musst du akzeptieren, was die Anderen tun“.
Auch die Wohnkultur scheint verloren. Hauptsache, die elektronischen Anlagen
funktionieren. Verloren ist unsere Esskultur. In meiner Jugend saßen alle
Familienmitglieder bei jeder Mahlzeit am gedeckten Tisch. Der Vater sprach
ein kurzes Tischgebet und man aß gemeinsam. So etwas gibt es heute wohl nur
noch, wenn überhaupt, auf dem Bauernhof.
Wir verloren das Bewusstsein, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir
uns täglich satt essen können, während die andere Hälfte der Weltbevölkerung
Hunger leidet.
Was ist mit der Baukultur? Unsere restaurierten Altstädte sind Zeugnis einer
Kultur von gestern. Heute wird „zweckmäßig“ gebaut. Die erschreckende
Uniformität unserer Städte ist Ausdruck dieser verlorenen Baukultur.
Verloren ist ganz sicher unsere Sprachkultur. Natürlich, Sprache verändert
sich ständig über die Jahrhunderte. Aber heute im Zeitalter der
Globalisierung wird unsere Sprache immer mehr amerikanisiert, unser eigener
Wortschatz geht verloren. Von etwa 70.000 Lexemen nutzt der Bürger gerade
mal noch unter 1.000 Wörter. Goethe und Schiller würden sich im Grabe
umdrehen.
Gibt es ihn noch den Glauben an Gott? Den Glauben an das Gute, an einen
Schöpfer der Ursache allen Naturgeschehens ist, der das Schicksal der
Menschen lenkt und die normative Größe für deren ethischen Verhalten
darstellt? Der Gottesglaube ist kennzeichnend und von zentraler Bedeutung
für alle Menschen unserer Erde. Alleine wir, die „aufgeklärte Gesellschaft“,
meinen, auf Gottesglauben verzichten zu können, weil wir, die Enkel der
„Dichter und Denker“, alles besser wissen – und um die Kirchensteuer zu
sparen!
Auf meine Frage nach seinem Glauben, gab mir ein durchaus gebildeter Mann
die Antwort „Ich glaube, dass ein Kotelett etwas Gutes zum Essen ist“.
Das Resümee: Jeder Einzelne kann für sich etwas an dieser Misere ändern. Er
braucht nur eine Wohn-Atmosphäre schaffen, den TV ausschalten, gemeinsam mit
der Familie essen, Ordnung halten, sich weiter bilden, ein gutes Buch lesen
und mit dem Partner diskutieren. Vielleicht entsteht dann das Bewusstsein
wieder, dass dies die echten Werte sind, die zu pflegen es sich lohnt.