Das Jahrhundert des Kurt Gödel

„2006 •Wien feiert ein Genie“: damit ist zweifellos Mozart gemeint. Aber Wien feiert auch den 100. Geburtstag von Kurt Gödel. Der ist nicht ganz so bekannt wie Mozart, aber ebenfalls ein Genie, das Wien zur Ehre gereicht.

Time Magazine reihte ihn unter die hundert wichtigsten Personen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Harvard University verlieh ihm das Ehrendoktorat für die Entdeckung „der bedeutsamsten mathematischen Wahrheit des Jahrhunderts“. Er gilt allgemein als der größte Logiker seit Aristoteles. Sein Freund Einstein ging, nach eigener Aussage, nur deshalb ans Institut, um Gödel auf dem Heimweg begleiten zu dürfen. Und John von Neumann, einer der Väter des Computers, schrieb: „Gödel ist tatsächlich absolut unersetzlich. Er ist der einzige Mathematiker, von dem ich das zu behaupten wage.“
Kurt Gödel (1906-1978), der in Brünn geboren wurde, studierte in den zwanziger Jahren in Wien. Bereits mit vierundzwanzig revolutionierte er nicht nur die Mathematik, sondern auch unsere Sicht der Mathematik. Er pendelte während der dreißiger Jahre zwischen Wien (wo er als Privatdozent 2 Schilling 90 im Semester verdiente) und Princeton (wo er einer der ersten Gastmitglieder des neu gegründeten „Institute for Advanced Study“ war). Anfang 1940 emigrierte er (obwohl nicht rassisch verfolgt) über die Sowjetunion und Japan in die USA. Er kehrte nie wieder nach Wien zurück und schrieb seiner Mutter, dass ihn Alpträume quälten, in Wien in der Falle zu sitzen.
Aber Gödel hatte seine besten und fruchtbarsten Jahre in Wien verbracht. Er gehört in das Wien der Zwischenkriegszeit, so wie Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Karl Popper, Konrad Lorenz, Robert Musil oder Arnold Schönberg, und vielleicht wird er einmal der bekannteste Vertreter dieses kulturell einzigartigen „goldenen Herbstes“.
Gödel bewies, dass es in jeder mathematischen Theorie, die reichhaltig genug ist, um das Zählen, Addieren und Multiplizieren zu erlauben, wahre Sätze gibt, die nicht bewiesen werden können – es sei denn, die Theorie enthält einen Widerspruch. Schlimmer noch: man könnte sicher sein, dass sie einen Widerspruch enthält, wenn es innerhalb der Theorie gelänge, ihre eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen. Wie Hans Magnus Enzensberger in seiner „Hommage à Gödel“ schreibt: „Du kannst deine eigene Sprache in deiner eigenen Sprache beschreiben: aber nicht ganz.“ Das klingt recht plausibel, aber Gödel hat daraus einen Satz der Mathematik gemacht. Es gelang ihm, eine philosophische Aussage in ein mathematisches Theorem zu verwandeln. In diesem Sinn hat Gödel für die Philosophie etwas Ähnliches geleistet, wie Newton für die Physik.
Auch die beiden anderen großen Entdeckungen Gödels sind von atemberaubender Kühnheit. Er hat einen grundlegenden Beitrag zur Mengenlehre geliefert, also dem Studium des Unend-
lichen, ein Fach, das nicht zu Unrecht als „Theologie für Mathematiker“ bezeichnet wird. Gödel gelang damit die Hälfte der Lösung des so genannten Kontinuumproblems, der Nummer eins in der Liste der mathematischen Probleme seines Jahrhunderts. Und er hat bewiesen, dass Einsteins Relativitätstheorie Reisen in die eigene Vergangenheit grundsätzlich erlaubt. Richtig verdaut haben das die Kosmologen noch heute nicht. In einer Randbemerkung hält Gödel fest, dass die Zeitrichtung bei der Landung des Reisenden wieder dieselbe ist, also nicht verkehrt abläuft wie in einem falsch eingelegten Film.
Diese gedanklichen Extremtouren forderten von Gödel einen hohen Zoll. Immer wieder durchlebte er schwere psychische Krisen und Zusammenbrüche. Er verbrachte viel Zeit in Nervenheilstätten. Der Direktor seines Instituts bezeichnete ihn in einem offiziellen Schriftstück als Genie mit psychopathischen Zügen. Immer wieder wurde Gödel von der Angst heimgesucht, vergiftet zu werden, und schließlich starb er an seiner konsequenten Weigerung, Nahrung aufzunehmen. Seine Lebensgeschichte ist nicht weniger tragisch als die in „A beautiful mind“.
Gödel, der sich auch an Gottesbeweisen versuchte, an Seelenwanderung glaubte und eine Verschwörung gegen Leibniz aufdecken wollte, ragt wie ein Fremdkörper ins zwanzigste Jahrhundert. Aber seine engere Umgebung war geradezu die Speerspitze ihrer Epoche. Sowohl die Denker des Wiener Kreises, als auch die Wissenschaftler in Princeton gehörten zum Modernsten, was das zwanzigste Jahrhundert zu bieten hat. So beruht etwa die Entwicklung des Computers durch Alan Turing und John von Neumann auf mathematischer Logik und formalen Systemen, deren unbestrittener Großmeister in jenen Jahren Gödel war. Der Unvollständigkeitssatz, den Gödel entdeckt hatte, lang bevor es programmierbare Computer gab, ist ein Satz über die Grenzen von Computerprogrammen, und seit dem Erfolg von „Gödel-Escher-Bach“ gilt Gödel als Schutzpatron der Computerkultur.
(Mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Botschaft)