Es gilt Verantwortung zu übernehmen

Franz Schmid

Zu den liebenswürdigen Eigenschaften der Thais gehörte es früher, Konfrontationen und Ärger aus dem Wege zu gehen. Bei Streitigkeiten oder Missverständnissen wurde in der Regel nach Kompromissen gesucht, bei dem alle ihr „Gesicht wahren" konnten. Nach thailändischer Denkweise wird jedem durch soziale Anerkennung in seiner Gesellschaftsstufe ein „Gesicht" gegeben. Es gilt dieses Gesicht zu bewahren, aber meist geht es den Thais dabei um ihr eigenes „Gesicht".

Normalerweise bedeutet dies, dass man eigene Schwachstellen oder die Anderer nicht bloßlegt. Diese Regel kann man auf zweierlei Art auslegen. Erstens könnte es viel zum harmonischen Zusammenleben beitragen, da man unnötige Schwierigkeiten damit ausräumen kann. Zweitens aber würde damit viel unter den Tisch gekehrt, was eigentlich aufgedeckt gehört.

Im heutigen Thailand schiebt man gerne immer jemand anderem die Schuld zu. Ausländer, ob westlich oder östlich, sind dafür die beliebtesten Opfer. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Im Hausflur eines Apartmenthauses fällt die Beleuchtung aus. Da der Hausmeister dies aber tagelang nicht selbst bemerkt hat, weist er die „Schuldfrage" ab, indem er meint, wenn die Lampe nicht so oft gebrannt hätte, wäre sie auch nicht kaputt gegangen. Dasselbe gilt übrigens auch für die Beleuchtung so mancher öffentlichen Anlagen – speziell in Pattaya. Das ist natürlich nach westlicher Auffassung absurd, aber der wirklich Schuldige, der seine Aufgabe nicht erfüllte, fühlt sich ertappt. Sich dafür zu entschuldigen, dass er seine Aufgabe nicht erfüllt hat, dazu kann er sich nicht aufraffen.

Als Herr Thaksin ein Riesenbusiness ins Ausland verkaufte, prangerten die Einheimischen keinesfalls den eigenen Landsmann an, sondern protestierten vor der Botschaft von Singapur. Auch Richter verfallen in diesen Fehler. Als vor einigen Jahren einem Schweizer Geschäftsmann in Bangkok eine betrunkene 13-Jährige mit einem Moped bei helllichtem Tage hinten aufs Auto fuhr, bekam dieser eine Teilschuld. Begründung: Wäre er in der Schweiz geblieben, wäre das nicht passiert. Dieses Urteil hat natürlich in der westlichen Presse Empörung ausgelöst.

Im alltäglichen Leben geht es zum Glück meist um Kleinigkeiten. Lässt die Putzfrau beim Abwaschen aus Versehen ein Glas fallen, dann hat sicher auch die Hausherrin Schuld, weil sie es a) entweder dumm hingestellt hat, b) das Geschirrspülmittel zu rutschig war oder c) weil sie das Glas überhaupt gekauft hatte und keinen Plastikbecher. Ein „mai pen rai" kann in diesen täglichen Situationen helfen, außer es war ein Glas von der Urgroßmutter – aber das hätte man ja eigentlich auch nicht ins Land der Freien, ins Land des Lächelns mitbringen müssen – oder?

Ein „mai pen rai" aber hilft nicht darüber hinweg, dass die Thais sehr selten Verantwortung für ihre Taten, Worte und Gedanken übernehmen wollen oder können. Das ist aber wichtig, denn, indem man Verantwortung für seine eigenen Taten übernimmt, wächst man. Im Privaten wie im Großen, bei kleinen Geschäften wie auch bei großen Transaktionen. Und es hilft, andere Menschen zu akzeptieren.