Die Stunde der Wahrheit
lässt auf sich warten
Franz Schmid
Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Khmer-Rouge-Regimes in Kambodscha versucht das
von der UN unterstützte Rote-Khmer-Tribunal die dunkle Vergangenheit
aufzuarbeiten. Zurzeit macht der Prozess gegen den 66-jährigen Kaing Guek Eav
(„Duch“), der von 1975 bis 1979 Leiter des Gefängnisses S-21 in Phnom Penh war,
weltweit Schlagzeilen. Nach dem Ende der Roten Khmer tauchte er unter und
arbeitete unerkannt unter falschem Namen in einer Nichtregierungsorganisation;
erst 1999 wurde er verhaftet.
Die Schreckensherrschaft des damaligen Regimes, bei der etwa ein Fünftel der
damaligen Bevölkerung ums Leben kam, hat eine solche grauenerregende Dimension,
die es unmöglich macht, einfach einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu
ziehen. Fraglich ist aber, ob die derzeitige Regierung an einer Aufarbeitung der
Vergangenheit ein Interesse hat. Der Staatsapparat, Militär und Wirtschaft sind
durchsetzt von ehemaligen Funktionären der Roten Khmer, die durch die Politik
der „nationalen Aussöhnung“ wieder in Amt und Würden kamen. Viele der ehemaligen
Führer in der ersten Riege sind verstorben. Pol Pot starb bereits 1998, von
seiner lebenslangen Gefängnisstrafe hat er nur ein Jahr verbüßt. Die
Strafprozesse gegen die noch lebenden und inhaftierten prominenten Führer der
Roten Khmer, Khieu Samphan, Nuon Chea, Ieng Sary und Ieng Sarys Frau Ieng
Thirith, sollen in ein bis zwei Jahren stattfinden.
Im Gefängnis S-21 saßen 16.000 Menschen ein. Alle wurden gefoltert, bevor sie
auf den berüchtigten „Killing Fields“ in einem Randbezirk der Hauptstadt
hingerichtet und ihre Leichen verscharrt wurden. Nur sieben Menschen überlebten
damals das Gefängnis. Von diesen sind heute nur noch drei am Leben. Die Aussagen
eines Überlebenden dieses Straf- und Folterlagers, Vann Nath, geben einen
erschütternden Eindruck der Zustände. „Ich dachte sogar, Menschenfleisch wäre
ein gutes Mahl.“ Die Gefangenen hätten zweimal am Tag drei Teelöffel Reisbrei
bekommen. Die Gefangenen seien gefesselt gewesen, und die Wärter hätten ihnen
befohlen, sich nicht zu bewegen und nicht zu sprechen. „Wir waren so hungrig,
dass wir sogar Insekten aßen, die von der Decke fielen“, sagte er.
Die Vergangenheit hat Kambodscha wieder eingeholt. Aber viele der heutigen
Generation in Kambodscha haben zu den damaligen Geschehnissen keine Beziehung
mehr. Sie müssen ihren oft schwierigen Alltag meistern, 50 Prozent der
Bevölkerung leben in Armut, jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben, die
durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei knapp 60 Jahren. Der ehemalige König
Norodom Sihanouk bezeichnete das Tribunal als „Geldverschwendung“. Viele seiner
Landsleute pflichten ihm da bei.
Trotzdem ist es dem kambodschanischen Volk zu wünschen, dass der schmerzhafte
Prozess der Aufarbeitung gelingt. Dass alles seine Zeit braucht, zeigt das
Beispiel Deutschlands. Auch heute ist die Nazi-Vergangenheit nicht in allen
Facetten bewältigt. Die Stunde der Wahrheit lässt auf sich warten. Sollte der
Prozess des Khmer-Rouge-Tribunals in einigen Jahren zum Abschluss kommen, so
wird auch kein Schlussstrich gezogen werden können. Die Vergangenheit bleibt
bestehen, sie kann nicht per Gerichtsbeschluss ausgelöscht werden.
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