Floco Tausin
Teil 1. Feine Gesichtszüge und graue Betonblöcke, monotoner
Verkehrslärm und schallendes Gelächter, kratzender Zigarettenrauch und reizendes
Parfüm, süße Baklava und scharfe Samosas, weiche Kissen und harte Bänke – was
wir als unseren Alltag kennen, ist eine Flut von verschiedenartigen
Informationen, die wir durch unsere fünf Sinne aufnehmen und im Gehirn zu einem
ganzheitlichen Bild zusammensetzen. Die Sinnesorgane sind die Tore unseres
Körpers, sie verbinden die Außenwelt mit der Innenwelt und bestimmen in
Abhängigkeit von unserem Bewusstseinszustand, wie wir diese Welt wahrnehmen.
Kein Wunder, schenkten spirituell wache Menschen im Osten wie im Westen ihren
Sinnen seit jeher eine große Aufmerksamkeit. Indische Philosophen etwa
studierten sehr genau das Zusammenspiel von Sinnesorganen, Sinnesobjekten,
Denken und Bewusstsein – und kamen darauf, dass eine ungezügelte Sinnestätigkeit
auf dem Weg zur Selbst- bzw. Gotteserkenntnis ein Hindernis darstellt. So heißt
es in der Bhagavadgita: „O Sohn der Kunti, die Sinne sind ungestüm und
beherrschen den Geist sogar desjenigen Menschen, der um Unterscheidungsvermögen
bemüht ist.“ Sinnesglück gilt als trügerisch, denn es sei „am Anfang wie Nektar
und am Ende wie Gift. Dieses Glück wird ‚Leidenschaft‘ genannt.“
Das
Allsehende Auge am Aachener Dom. (Photo: Wikipedia)
Heißt das nun, dass wir die Augen verschließen und die Ohren verstopfen sollten,
wenn wir um ein spirituelles und bewussteres Leben bemüht sind? Natürlich nicht,
vielmehr geht es darum, unsere Sinnestätigkeit auch für die
Bewusstseinsentwicklung dienlich zu machen. Dazu haben uns die Weisen früherer
Zeiten ein wunderbares Instrument zur Hand gegeben: die Meditation.
Die Meditation wird heute bei uns oft losgelöst von einer spezifischen Religion
gelehrt, teilweise als therapeutisches Mittel gegen Stress, Anspannung,
emotionale Probleme etc. Zweifellos wird das Praktizieren unsere Sinnestätigkeit
stets von neuem beruhigen und einer Überreizung unserer Sinnesorgane, die uns
unruhig und unzufrieden macht, entgegenwirken. Doch die Meditation geht über
eine therapeutische Anwendung hinaus: Sie ist ein Mittel zum Zweck, eine Stufe,
die zu mehr führen sollte: Der oder die Praktizierende versucht zu einer
Erkenntnis der Welt und von sich selbst zu gelangen, die ungetrübt ist durch
Gedanken und Gefühle.
Der innere Sinn
Wir können davon ausgehen, dass eine solche subtile Erkenntnis durch
die Verbindung eines subtilen Sinnesorgans mit einem subtilen Sinnesobjekt
zustande kommt. Diesen subtilen Sinn bezeichne ich in Anlehnung an meinen
Lehrer, den im Schweizer Emmental lebenden Seher Nestor, als „inneren Sinn“.
Nestor versteht diesen inneren Sinn nicht als sechsten Sinn, sondern als
Zusammenfassung aller fünf Sinne. Der innere Sinn steht somit in unmittelbarer
Beziehung zu den körperlichen Sinnen, welche durch diesen „verinnerlicht“
werden.
Die
Beziehung zwischen Wahrnehmung, Seele und Zirbeldrüse nach René Descartes.
(Photo: Heise)
Obwohl dieser innere Sinn keine offensichtliche physiologische Entsprechung hat,
wird er von vielen Kulturen symbolisch in seinem visuellen Aspekt dargestellt,
dem dritten Auge. In den östlichen Religionen symbolisiert das dritte Auge
göttliche Weisheit und Befreiung; berühmt ist seine tantrische Entsprechung im
zweiblättrigen Anja Chakra zwischen den Augen. Im Christentum kann das
„einfältige“ oder „durchlässige“ Auge bei Mt. 6, 22 sowie das göttliche
allsehende Auge in einem Dreieck als drittes Auge verstanden werden. Und selbst
in der westlich-wissenschaftlichen Tradition gibt es Vorstellungen von einem
inneren Auge, welches mehr wahrnehmen kann als die üblichen optischen Reize.
Dieses wird mit bestimmten Hirnbereichen wie der Zirbeldrüse assoziiert.
Anmerkung des Autors: Alle Bilder stammen aus Bilddatenbanken im Internet,
aus wissenschaftlichen Publikationen oder aus meiner eigenen Sammlung. Sie
unterstehen entweder einer Creative Commons-Lizenz, fallen aufgrund der
Verjährung nicht mehr unter das Copyright oder werden im Sinne des Zitatrechts
aus wissenschaftlichen Publikationen verwendet. Bei den Bildern aus meiner
Sammlung besitze ich das Copyright bzw. habe die freundliche Genehmigung des
Künstlers eingeholt.
(Auszüge aus dem Buch von Floco Tausin: Mouches Volantes. Die Leuchtstruktur des
Bewusstseins, Bern (Leuchtstruktur Verlag, 2004). Fortsetzung in der nächsten
Ausgabe.